Donnerstag, 25. Dezember 2008

Das geheimnisvolle Taschentuch


"2 Taler zahle ich Dir dafür! Nicht eine einzige Münze mehr werfe ich Dir in Deinen Rachen, Du elender Halsabschneider!".


Käpt'n Kabeljau musterte sein Gegenüber abschätzig von oben bis unten. Pah! Einer dieser dahergelaufenen Möchtegern-Piraten, die er jeden Tag am Hafen abwimmeln musste und die nur zu gerne auf seinem Schiff anheuern wollten. Und jetzt dachte dieser Strolch, er könne hier noch verhandeln. Na, das konnte er wohl vergessen! Käpt'n Kabeljau verdrehte die Augen und sagte mit ruhiger Stimme:

"Hör mal zu, Kleiner. Du hast mir nicht zugehört. Dieses Schiff kostet 4 Taler. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn Du dir das nicht leisten kannst, dann verschwinde gefälligst! Deine Sorte kenne ich. Keine richtige Ausbildung, und dann auch noch anständiges Handwerk nicht bezahlen wollen. Was denkst Du eigentlich, wer Du bist?"

Die Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, und der Mann verzog sich eiligst, wohl wissend, dass er sich besser nicht mit Käpt'n Kabeljau anlegen sollte. Er hatte bisher nur von ihm gehört, von den Geschichten, die ihn umrankten, von seinen Heldentaten und natürlich von seinem Schiff "Matilda", auf dem jeder anheuern wollte, weil es eine Ehre war, unter SEINER Flagge zu segeln. Wie hätte er es wissen sollen, dass der Käpt'n sich nicht auf sein Feilschen einlassen würde. Sicher, im Verhandeln, im Feilschen und erst recht im Betrügen war er nie besonders gut gewesen, aber mit so einer Abfuhr hatte er nicht gerechnet.

Seufzend packte der Käpt'n seine restlichen kleinen Schiffe in seine mit Mahagoni-Holz eingefassten Kisten ein und verschloss jede einzelne mit einem Vorhängeschloss. Hier konnte man keinem trauen! Erst recht nicht auf dem Markt, wo sich eigentlich nur Gesindel herumtrieb und der den Bewohnern ein breites Sammelsurium an Nützlichem und weniger Nützlichem offenbarte. Die kleinen handgeschnitzten Modelle seines Segelschiffes, die seine Mannschaft in den ruhigen Tagen auf See immer für ihn anfertigte, waren sehr begehrt, und der Käpt'n hatte sich sogar die Frechheit erlaubt, aufgrund der großen Nachfrage den Preis von drei auf vier Taler zu erhöhen. Zuerst war auf dem Markt natürlich das Geschrei groß, aber er liebte es, an seinem schlechten Ruf zu arbeiten. Die Bezeichnung "Halsabschneider" war dabei noch von der harmloseren Sorte. Käpt'n Kabeljau grinste schelmisch und humpelte langsam los. Zurück blieb sein 3. Offizier, der die schweren Kisten wie immer mit drei Männern zurück zum Schiff schleppen musste.

Quieeeeeeetschschsch......

Die Tür zur Wäscherei unten am Hafen öffnete sich mit einem ohrenbetäubenden Knarzen und Knirzen. Käpt'n Kabeljau regte sich jedes Mal auf, wenn dieser scharfe Ton in seine Ohren kroch und ihn bis ins Mark erzittern ließ! Es konnte doch wohl nicht so schwer sein, diese kleine Tür zu ölen. Jeder Kunde, der die Wäscherei betrat, würde dafür dankbar sein. Aber irgendwie gehörte es zu dem eigentümlichen Laden, der nun schon in der 5. Generation von der gleichen Familie betrieben wurde. Käpt'n Kabeljau brachte seine ganze schmutzige Wäsche hierher, und er konnte sich sicher sein, dass sie immer gründlich sauber gewaschen und gefaltet zu der vereinbarten Zeit bereit lag. Sogar seine heiß geliebten farbigen Taschentücher wurden mit der gleichen Sorgfalt behandelt und mit einem heißen Eisen gebügelt. Wirklich erstklassige Arbeit, dachte er sich und kramte in seiner Tasche nach den Talern für den gerechten Lohn.

Haaaaaatschi!!

Käpt'n Kabeljau konnte nichts mehr machen. Machtlos gegenüber dem Staub, der draußen vor der Wäscherei durch eine vorbeisausende Kutsche aufgewirbelt wurde, musste er laut niesen. Umständlich kramte er in dem Wäschepaket nach einem seiner Taschentücher. Es musste doch irgendwo sein! Wahllos zog er eines heraus und nieste gleich noch einmal hinein. Was für ein Staub!

Er faltete das Taschtuch sorgfältig zusammen und wollte es gerade in seine Tasche stecken, als er auf einmal stutzte und genauer hinschaute. Das war ja gar nicht sein Taschentuch! Es hatte nicht diese schönen Muster in blau und weiß, die er so liebte und natürlich zu dem restlichen Interieur seiner Kajüte passten. Aber dieses hier? Dieses in seinen Händen war weder gemustert noch einfarbig. Es musste versehentlich zwischen seine Wäsche geraten sein und wurde bestimmt schon von jemandem vermisst. Käpt'n Kabeljau musterte das Taschentuch genauer. Was waren das bloß für merkwürdige Zeichen und Linien? Einige Worte konnte er entziffern: Blaugold, Rotbuche, Silberinsel. Andere waren in einer ihm fremden Sprache geschrieben. Was ihn aber am meisten faszinierte, war das nicht zu übersehene, mit einem goldenen Faden eingewebte große "X" in der Mitte!

Was hatte es zu bedeuten? Die Hände des Käpt'n zitterten. Das konnte nicht sein! Er blickte verstohlen um sich, aber keiner der anderen Bewohner des Dorfes schien sich auch nur im geringsten für ihn zu interessieren. Seine Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er hatte schon viel davon gehört. Beinahe jedes Kind kannte die Geschichte. DIE Geschichte. Die Geschichte des großen Goldschatzes, und so wie es aussah, hatte Käpt'n Kabeljau soeben die Schatzkarte dazu entdeckt...